Über die Kränkung
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Das Thema Kränkung ist komplex. Zuallererst ist es wichtig festzustellen: Eine Kränkung ist keine Krankheit. Wie es der Name vielleicht vermuten lassen könnte. Eine Kränkung ist auch nicht unbedingt eine direkte Handlung oder Aktion. Auch das ist wichtig festzuhalten.
Eine Kränkung ist eine psychische Reaktion. Eine psychische Reaktion die sich schlagartig oder auch schleichend entwickeln kann. Vor allem im Verlauf der Entwicklung der Persönlichkeit prägen sich Kränkungen ein und beeinflussen das weitere Leben.
Kränkung ist ein Prozess zwischen dem kränkenden Faktor und der gekränkten Person. Es ist völlig normal, dass man kränkbar ist, und nicht jede Kränkung ist beabsichtigt.
Eine Kränkung ist eine Verletzung eines Menschen in seiner Ehre, seiner Würde, seinen Gefühlen und seiner Selbstachtung. Sie erschüttert die eigenen Werte sowie den Selbstwert und den Gerechtigkeitssinn.
Kränkungen enttäuschen und können nachhaltig negativ wirken. Als kränkend können zum Beispiel folgende Faktoren wirken:
Ablehnung, Beleidigung, Zurückweisung, Beschämung oder Bloßstellung, Nichtbeachtung, Ignoranz oder Übergangenwerden, Geringschätzung oder die Vorenthaltung von Lob, Rücksichtslosigkeit, fehlende Empathie, Liebesentzug.
Diese und ähnliche Faktoren bewirken eine »Entwertung« des eigenen Selbst. Unser Selbstwert wird geschwächt. Es folgen Scham, Zweifel, Angst vor neuen Kränkungen und depressive Gefühle. Um diese unangenehmen Gefühle auszugleichen, tritt oftmals Wut auf. Es kann zu Rachegefühlen kommen oder zu gewalttätigen Ausbrüchen. Alles läuft darauf hinaus, den eigenen Selbstwert wiederherzustellen. Wird dieses Ziel allerdings überschritten, wertet man für die eigene Wertwiederherstellung andere ab. Dies führt zu weiteren Kränkungen und Kränkungsreaktionen anderer und es entsteht eine Kränkungsspirale.
Oft werden Kränkungen immer und immer wieder durchgekaut, hallen lange nach und sind begleitet von Ängsten, Nervosität und Übererregung. Kränkungsreaktionen können Traumareaktionen sehr ähnlich sein. Kränkungen können so weit führen, dass man permanent in einer Art »Alarmmodus« verharrt. Dies kann körperlich und seelisch sehr stressen. Gefühl und Verstand kommunizieren nicht mehr ungestört miteinander. Die Kränkung bleibt präsent, obwohl die eigentliche Kränkungssituation längst vorbei ist. Laufende bzw. starke Kränkungssituationen können unter anderem Angststörungen, Depressionen, psychosomatische Erkrankungen, Essstörungen, Sucht oder Burnout begünstigen. Kränkungsreaktionen können »erstarren« und in Verbitterung münden. Die Verbitterung kann so weit gehen, dass sie Körper und Seele nachhaltig schwächt, ein Zustand, der als Posttraumatische Verbitterungsstörung bezeichnet wird.
Individuelle, persönliche Kränkungen sollten uns allen mehr als bekannt sein und es gibt verschiedenste Beispiele für diese persönliche, gefühlte Entwertung:
Übergangen werden in einer Unterhaltung, sich an Regeln oder Verabredungen halten, die andere nicht einhalten oder verändern, nicht dieselbe Liebe zu bekommen, die man selbst für eine andere Person empfindet, als einzige Person nicht zu etwas eingeladen worden zu sein – und so weiter und so weiter.
Mit diesem psychologischen Prinzip lassen sich aber auch gesellschaftliche Phänomene erklären. Denn Kränkungen und Kränkungsreaktionen können auch größere Gruppen betreffen.
Ein Ausklammern oder Nichtwahrnehmen von Randgruppen, Minderheiten ist eine systemische Kränkung, eine Abwertung oder sogar Entwertung auf Grundlage von zum Beispiel Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe, Religion, körperlichen Einschränkungen, sexueller Ausrichtung, Bildung oder sozialem Stand.
Nicht immer weiß man, dass man kränkt, vielleicht war es auch gar nicht beabsichtigt. Die gekränkte Position muss daher oft selbst auf die eigene Kränkung hinweisen. Dies kann in der Folge zur Kränkung des Gegenübers führen, wenn es sich durch den Vorwurf des Kränkens unfair verletzt fühlt. Oftmals stehen sich also mehrere Kränkungsreaktionen gegenüber und man kommt nicht weiter – bis ein Weg aus der Kränkungsspirale heraus gefunden wird. Gesellschaftlich kann es zu Wut kommen, zu Protest, zu Verhärtung der Fronten, zu Streit, Hass, Gewalt und Spaltung. Sich einer Gruppe zuzuordnen, gerne auch in Ablehnung anderer Gruppierungen, ist auch Versuch, den verletzten Selbstwert wieder herzustellen und das eigene Selbst aufzuwerten.
In einer nochmal größer gedachten »Gruppe« wird aus all dem ein Phänomen, dass die ganze Menschheit in ihrem kollektiven Selbstwertgefühl betrifft:
Nach einer These von Sigmund Freud gibt es »Kränkungen der Menschheit«: Umstürzende wissenschaftliche Entdeckungen, die das Selbstverständnis der Menschen in Frage stellen. (Wobei auch Freud hier selbst kränkend agiert, in dem er »Menschheit« ausschließlich auf den eigenen Kulturkreis bezieht – aber das nur am Rand.)
Die Kränkungen der Menschheit – Nummer Eins: Die kosmologische Kränkung: Die erschütternde Entdeckung, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist.
Nummer Zwei: Die biologische Kränkung: Die Entdeckung, dass der Mensch von Tieren abstammt.
Nummer Drei: (und hier freut sich Freud!) Die psychologische Kränkung: Die Erkenntnis, dass sich ein beträchtlicher Teil unseres Seelenlebens der Kenntnis und Herrschaft unseres bewussten Willens völlig entzieht.
Die Kränkung ist also ein Grundprinzip unseres Lebens. Angefangen bei der ersten psychologischen Kränkungserfahrung in der kindlichen Entwicklung, dass man selbst nicht das Zentrum, sondern nur ein Stück, ein kleiner Teil der großen Welt ist.
Und damit landen wir im Heute und bei uns und in der These, dass wir uns alle gerade in einer weiteren, vierten Kränkungsphase befinden.
Sei es die erlebte Erkenntnis der Angreifbarkeit durch so etwas kleines, wie ein Virus, das Erleben, dass wir das von uns Geschaffene nicht mehr beherrschen und aus den Händen verloren haben oder das Erleben des Aufbrechens der vertrauten Strukturen und Systeme, in denen die westliche Gesellschaft lange unhinterfragt existierte.
Im August zeigte eine Studie, dass die psychischen Belastungen berufstätiger Menschen in Deutschland im ersten Halbjahr dieses Jahres massiv gestiegen sind. Die Fehlzeiten wegen seelischer Leiden lagen um 85 Prozent höher im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. »Diese Entwicklung ist alarmierend, denn wir haben nur in der Hälfte der Zeit fast das Niveau des gesamten Jahres 2022 erreicht«, wird eine Psychologin zitiert.